Der Kiebitz - Eine Zugvogel-Geschichte

Valerie Forster, Ein Waldspaziergang mit bitterem Nachgeschmack

 

Letzte Schneereste lagen noch auf der kurz geschnittenen Wiese und die Nächte waren kalt. Unter dem alten Apfelbaum blühten jedoch bereits einige Schneeglöckchen. Ein weiterer Frühlingsbote war ebenfalls schon eingetroffen, der Kiebitz. Er hatte sich bereits sein Revier gewählt, welches er mit akrobatischen Flugspielen markierte. Im Tiefflug glitt er über die Wiese, plötzlich stieg er steil in die Höhe, drehte sich in einer Flugrolle um die eigene Achse, ließ sich aus großer Höhe bis fast zum Boden fallen, und stieg steil wieder empor. Dazu sang er eine laute zusammenhängende Strophe. Schließlich wuchtelte er mit den Flügeln, was dumpfe rhythmische Geräusche erzeugte.

 

Ein Kiebitzweibchen konnte der eindrucksvollen Flugshow nicht widerstehen. Eine Mulde im Boden wurde als Nest mit nur wenig trockenem Material ausgestattet. Bald lagen in dem bescheidenen Nest vier olivefarbene dunkel gefleckte Eier. Stolz saß die werdende Mutter auf ihrem Gelege. Einmal schlich ein Fuchs am Apfelbaum vorbei. Als er jedoch das aufgeregte „Kiewit“ des Kiebitzpärchens hörte, eilte er schleunigst weiter.

 

Der Schnee war längst geschmolzen und die Sonne wärmte die Erde mit ihren warmen Strahlen. Doch dann setzte anhaltender Regen ein. Große Pfützen bildeten sich auf der Wiese. Nur mit Mühe konnten die Kiebitze ihr Nest trocken und warmhalten. Als die Jungen schlüpften, reichte ihnen das Gras bereits bis zum Hals. In dem wuchernden Grün konnten sich die Nestflüchter nur schwer bewegen. Liebevoll wärmte die Mutter ihre Küken. Besonders dem Jüngsten machte die Nässe Probleme. Es wurde immer schwächer, obwohl es täglich mit einem Extrabissen gefüttert wurde. Eines Morgens lag es tot neben seinen Geschwistern. Für die Eltern war es schwer in dem verdichteten Boden genug Würmer und Insekten zu finden. Schließlich beschlossen die Kiebitze, mit ihren Jungen auf einen nahegelegenen Acker umzuziehen.

 

Die Jungen konnten noch nicht fliegen, also führte die Mutter sie durch die Wiese. Das frechste Küken riss immer wieder aus und sie hatte Mühe, es im hohen Gras wiederzufinden. Plötzlich ertönten Warnrufe des Kiebitzmännchens, welches das Geschehen vom Himmel aus beobachtete. Schon hörte die Mutter einen dröhnenden Lärm und spürte, wie der Boden unter ihr erzitterte. Das konnte nur einen nahenden Traktor bedeuten. Bei dem Alarmruf hatten sich die Jungen instinktiv dicht auf den Boden gedrückt. Jetzt trieb die Mutter sie panisch zur Eile an. Zwei Küken hatten bereits den rettenden Acker erreicht. Aber wo war das Dritte?

 

Beide Kiebitze flogen suchend über die Wiese. Das Männchen drohte dem Traktor. Der Bauer beachtete dies jedoch nicht und fuhr weiter. Als die Wiese gemäht war und der Bauer längst fort, kreisten die Kiebitzeltern noch immer über der Wiese. Plötzlich entdeckte das Männchen etwas. Rasch flog es hinab. Entsetzen ergriff es, als es das zerfleischte Federknäuel sah. Der Kiebitz spürte einen Lufthauch hinter sich und wollte seiner Gattin den Anblick ersparen. Schon hatte sie das vermisste Junge erblickt. Sie erbebte und brach schockiert zusammen.

 

Die Kiebitzmutter erholte sich nur schwer von diesem traumatischen Erlebnis. Dennoch gelang es den Eltern, die zwei verbliebenen Jungen ohne weitere Vorkommnisse groß zu ziehen. Die Jungen waren längst selbstständig, als die Eltern sich im Sommer zusammen mit anderen Kiebitzen zu einem kleinen Trupp zusammenschlossen. Immer mehr Artgenossen gesellten sich zu dem Schwarm. An einem stürmischen Spätsommertag brachen sie endlich zu ihrer Reise nach Süden in ihre Winterquartiere auf. Sie flogen über Wälder, Wiesen und Felder, Berge und Täler. Besonders das Überqueren der Gebirge war sehr kräftezehrend.

 

Nach einer langen Tagesetappe suchten die erschöpften Vögel einen Rastplatz. Sie landeten auf einem abgeernteten Feld, doch der Acker war wie ausgestorben. Weder Insekten noch Würmer waren zu finden. Der Kiebitz lockerte und dehnte seine schmerzenden Flügel. Er pickte auch ein paar der vereinzelten Samenkörner, satt wurde er davon jedoch nicht. Es blieb dem Schwarm nichts anderes übrig, als weiterzufliegen und auf eine bessere Rastmöglichkeit zu hoffen.

 

Schließlich entdeckte der Kiebitz eine weitläufige Schlammfläche. Er landete in der Nähe des Schilfes und alle Mitglieder seines Trupps folgten ihm. Kaum hatten sie sich gierig auf die ersten Würmer gestürzt, knallten Schüsse vom Schilf herüber. Der Schwarm flog erschrocken auf, aber einige Kiebitze blieben tot im Schlamm liegen. Darunter auch das Weibchen, mit welchem der Kiebitz in diesem Jahr schon so manchen Schicksalsschlag geteilt hatte. Dem Kiebitz blieb allerdings keine Zeit für Abschied und Trauer. Erneut fielen Schüsse und einige Vögel stürzten mit Schreckensrufen zu Boden. Wilderer! In ungeordnetem Flug eilten die Vögel davon. Die Angst verlieh ihnen neue Energie.

 

Bald erreichte der Trupp ein anderes Feuchtgebiet. Würden sie hier ungestört rasten können? Die Vögel mussten es einfach versuchen, denn sie waren am Ende ihrer Kräfte. In der Dämmerung sah der Kiebitz nun den schwachen Schein von Taschenlampen im Schilf. Er wollte schon einen Warnruf ausstoßen, da entdeckte er das Polizeiauto. Polizisten und ein Ranger stürzten sich gerade auf mehrere Vogeljäger und konnten diese tatsächlich fassen. Endlich konnten die Vögel ausruhen und ihren Hunger stillen. Sie waren dem Ranger und den Polizisten so unendlich dankbar dafür.

 

Als die Kiebitze in der Lagune eintrafen, in der sie überwintern wollten, waren sie sehr ausgezehrt, aber glücklich, ihr Ziel doch noch erreicht zu haben. In dem großen Schutzgebiet konnten sie sich von den Strapazen erholen und sich satt fressen. Wilderer gab es hier nicht. Nur kleine Gruppen von Vogelbeobachtern wurden gelegentlich hierhergeführt. Statt Schusswaffen hatten sie Ferngläser und Kameras. Vor denen brauchten die Kiebitze und alle anderen Vögel keine Angst zu haben.

 

Ein Führer fiel dem Kiebitz besonders auf. Er erzählte seinen Gästen immer so leidenschaftlich und hingebungsvoll vom Leben der Vögel. Zusammen mit anderen Naturschützern führte er zudem Pflegemaßnahmen zum Erhalt des Gebietes durch. Manchmal zählte er sogar die Vögel. Wie sehr der Kiebitz in diesem Jahr auch gelernt hatte, die Menschen zu fürchten, diesen hier musste er einfach lieben. In ihm keimte zudem die Hoffnung, dass es noch mehr Menschen wie diesen Mann geben könnte.

Tipp: Mit einer Zugvogel-Patenschaft können Sie dem Kiebitz und vielen anderen Zugvögeln helfen

Die europäischen Zugvögel nicht nur in ihren Brutgebieten zu schützen, sondern auch ihre Überwinterungs- und Rastplätze zu sichern, ist eines der wichtigsten Ziele beim Vogelschutz von EuroNatur. Mit einer Zugvogel-Patenschaft unterstützen Sie die Stiftung beim Kampf gegen die Vogeljagd. Sie helfen dabei, die Ausweisung von Schutzgebieten voranzutreiben und die Menschen vor Ort für ihre Naturschätze zu sensibilisieren.

 

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