Juni

Das träumende Pfauenauge

Die schwarze Raupe, mit den spitzen Dornen auf dem Rücken, saß gesellig mit ihresgleichen auf den Brennnesseln. Den ganzen Tag verbrachten sie mit Fressen und wieder Fressen. Dieses Leben fand die Raupe sehr eintönig, und sie langweilte sich. Verträumt blickte sie den Schmetterlingen nach, die gelegentlich vorbeiflogen.

 

"Schon bald werden wir sein wie sie, so frei, flink und fröhlich", sagte sie zu den anderen Raupen.

Diese interessierte es allerdings überhaupt nicht, dass es noch etwas anderes als Fressen geben könnte, dass auch sie dazu geboren waren, eines Tages zu fliegen. Die Raupe sagte es ihnen immer wieder, aber sie wurde dafür nur verspottet und als Lügnerin bezeichnet. Sie fühlte sich einsam unter ihnen und entfernte sich immer weiter von den anderen Raupen. Allein saß sie auf ihrer Brennnessel und wollte sich schon aufgeben, denn sie wusste nur, dass sie irgendwie ein Schmetterling werden könnte, aber sie wusste nicht wie. Doch da geschah etwas Wundersames mit ihr: Sie verpuppte sich. Als sie nach einiger Zeit aus dieser Puppe schlüpfte, war sie keine Raupe mehr, sondern ein wunderschöner Schmetterling. Das Pfauenauge breitete seine roten Flügel, die mit bunten Augen verziert waren, aus und erhob sich in die Luft. Unten sah es die anderen Raupen sitzen und es rief ihnen zu: "Seht, ich habe euch nicht angelogen, ich bin jetzt ein Schmetterling! Fliegen ist noch viel toller, als ich es mir in den kühnsten Träumen vorstellen konnte!"

 

Die Raupen erkannten den Schmetterling jedoch nicht, und sie glaubten noch immer nicht, dass sie sich ebenfalls eines Tages derart verwandeln würden. Da begriff das Pfauenauge, dass die Raupen es nie verstehen würden. Vor lauter Fressen wussten diese selbst nicht mehr, wer sie waren.

Seinem Ruf folgend, fand das Pfauenauge die Blumen. Zum ersten Mal schlürfte es süßen Nektar, und dieser schmeckte so köstlich, dass es nie wieder etwas anderes zu sich nehmen wollte.

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